S. Businger u.a.: Heimplatzierungen von Kindern und Jugendlichen

Cover
Titel
«Genügend goldene Freiheit gehabt». Heimplatzierungen von Kindern und Jugendlichen im Kanton Zürich, 1950–1990


Autor(en)
Businger, Susanne; Ramsauer, Nadja
Herausgeber
Businger, Susanne; Ramsauer, Nadja
Erschienen
Zürich 2019: Chronos Verlag
Anzahl Seiten
Preis
€ 48,00
URL
von
Helena Kanyar Becker

Den sprechenden Titel wählten die Autorinnen aus einem abschlägigen Brief des Winterthurer Stadtrats Albert Eggli an eine junge Frau, die 1973 im Gefängnis Hindelbank eingesperrt war und vergeblich um eine Freilassung gebeten hatte. Der Titel charakterisiert die autoritäre Behandlung der Vormundschaftsbehörden in Zürich, Winterthur und im Bezirk Pfäffikon (ZH) der Kinder, Jugendlichen und deren Eltern, die bis Ende der 1980er Jahre Opfer der Zwangsmassnahmen waren. Im Fokus der behördlichen Aufmerksamkeit standen die armutsbetroffenen Familien sowie die ledigen und geschiedenen Mütter. Nach den gutbürgerlichen Vorstellungen konnten die berufstätigen Frauen ihre mütterliche Rolle nicht erfüllen, sie sollten für die Kindererziehung und den Haushalt sorgen, als Familienernährer galten die Väter.

Die Kinderschutzmassnahmen stützten sich auf das Schweizerische Zivilgesetzbuch (ZGB) von 1907, das 1912 in Kraft trat. Die Behörden fühlten sich verpflichtet, Kinder und Jugendliche vor «dauernder Gefährdung» und «Verwahrlosung» zu schützen, unterstützt wurden sie dabei von der Polizei, von Pfarrern, Pädagogen, aber auch Psychiatern und Psychologen. Die Kinder und Jugendlichen wurden in Pflegefamilien oder in Erziehungs- und Arbeitsheime fremdplatziert. Erst nach der Revision des ZGB von 1976 (1978 in Kraft getreten) wurden die ehelichen und unehelichen Kinder gleichgestellt sowie die Erziehungsbeistandschaft als eine Form der Familienberatung eingeführt. Weitere Korrekturen folgten nach der Einführung des neuen Eherechts 1988.

Die Autorinnen wählten die Fallakten der Stichjahre 1954, 1964, 1974 sowie 1984 aus und verwendeten bei deren Analyse quantitative als auch qualitative Methoden. Sie werteten 606 Vormundschaftsakten aus, untersuchten die Begründungen und Argumente der Vormunde und Jugendsekretäre. Die meist ausgebildeten Juristen wurden von Sozialarbeiterinnen unterstützt. Die Autorinnen stellen unter anderem eine Abnahme der Entrechtung der betroffenen Eltern fest: Während der 1950er Jahre gab es ca. 1000 Fälle des Entzugs der elterlichen Gewalt pro Jahr, in den 1970er Jahren waren es noch ca. 300. In ähnlichem Ausmass sanken die vormundschaftlichen Anträge und Entscheide in den 1970er und 1980er Jahren. Im Zentrum der behördlichen Aufmerksamkeit standen nach wie vor die Schulleistungen der Kinder, die Berufsausbildung, das Arbeitsverhalten und der Alkoholkonsum der männlichen Jugendlichen sowie die Sexualität der pubertierenden und adoleszenten Mädchen. Auch Homosexualität galt als Grund zur Überweisung in eine Arbeitserziehungsanstalt.

Alarmierend fanden die Behörden die zunehmende Freizeit während der 1950er
Jahre und den wachsenden Einfluss der Medien – Radio, Film, Fernsehen, sogar Comic-Hefte erachteten sie als schädlich. Gar keinen Platz in der Erziehung sollten die Jugendkulturen einnehmen, zu denen die moderne Kleidung, wie zum Beispiel Bluejeans, gehörten. Nicht nur die Rockerkultur, sondern auch der intellektuelle Existenzialismus galten als verwerflich. Eine echte Herausforderung stellte ab Ende der 1960er Jahre der Drogenkonsum dar. Erst die dramatische Eskalation der Drogenszene auf dem Zürcher Platzspitz von 1986 bis 1992 führte zum neuen Konzept der Drogenpolitik, begleitet von psychologischen Beratungen und Wiedereingliederung der Drogensüchtigen.

Dank den Diskussionen über die Erziehungs- und Arbeitsanstalten während der Jugendprotestbewegung, an denen auch die Jugendlichen mit der Erfahrung aus diesen Institutionen teilnahmen und über die vor allem die Medien in der sogenannten «Heimkampagne» berichteten, folgten Veränderungen des restriktiven Regimes dieser Zwangsanstalten. Das unqualifizierte Personal wurde durch sozialpädagogisch geschulte Personen ersetzt, die Ordnungsregeln wurden teilweise demokratisiert und die persönlichen Rechte mehr respektiert.

Die Autorinnen widmen den zweiten Teil ihres Buches zuerst den Entscheidungsprozessen in einem typischen Fallverlauf. Dann liefern sie eine umfassende Darstellung über die Erziehungsheime, in denen trotz regionaler und konfessioneller Unterschiede Arbeit bis hin zu Schwerarbeit als Erziehungsgrundlage galt. Zum Alltag gehörten dort Strafen und Misshandlungen sowie sexuelle Gewalt, die nur selten in den Fallakten dokumentiert waren und über welche die damaligen Opfer später berichteten. Besonders krass waren die Überweisungen der Jugendlichen in geschlossene Einrichtungen, wie in die Strafanstalt Regensdorf (bis 1972) und die Jugendabteilung des Berner Frauengefängnisses Hindelbank (ab 1973). Die Massnahmen konnten nach der Volljährigkeit der Jugendlichen verlängert werden und zu derer Entmündigung führen.

In den gründlichen Fallanalysen zeigen die Autorinnen die Entwicklung von den traditionellen vormundschaftlichen Strukturen Ende der 1960er Jahre bis hin zum allmählichen Umdenken und der Kooperationsbereitschaft der Fürsorgebehörden in den folgenden Jahrzehnten. Sie ergänzen ihre Texte mit Grafiken über die Häufigkeit der Untersuchungsmassnahmen und der Bevölkerungsstatistik der Stadt Zürich 1954–1994.

Zitierweise:
Kanyar Becker, Helena: Rezension zu: Businger, Susanne; Ramsauer, Nadja: «Genügend goldene Freiheit gehabt». Heimplatzierungen von Kindern und Jugendlichen im Kanton Zürich, 1950–1990, Zürich 2019. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte 71 (1), 2021, S. 220-222. Online: <https://doi.org/10.24894/2296-6013.00080>.